Das organisierte Pflege-Chaos: Behinderteneinrichtungen als “illegaler Pflegeheimbetrieb”!
Warum werden Notlösungen institutioneller Betreuungsformen mehr gefördert als echte familiäre Geborgenheit?
Nötigung und Zwang in die (Aus)Sonder(ungs)Anstalten
Durch die existenzielle Aushungerung von Familien mit schwerstbehinderten Angehörigen, sowie durch die eugenisch-ökonomistische Verweigerung bedarfsdeckender und bedürfnisgerechter Unterstützungen, entsteht überhaupt erst der aufgezwungene “Bedarf” an institutionell-stationären Wohnformen, zu denen in Österreich leider auch die so genannten “Wohngemeinschaften” für behinderte Menschen zu zählen sind. Von einer “Familienähnlichkeit” zu sprechen, ist reiner Etikettenschwindel, egal wie häufig dies auf entsprechenden Homepages der Betreiber betont wird.
Auch wenn die Zahl der Bewohner in die Nähe einer Großfamilie gerückt wird, bleibt der segregierende, bevormundende und entrechtende Charakter von sogenannten “Heimen” auch in WG’s erhalten. Egal mit wieviel “Latex” (Anm.: siehe unten), die “Sterilität” liegt darin, weil familiäre Geborgenheit eben nicht “machbar” ist.
Orientierung am Optimum, der Familie, ist Menschenpflicht – Wahlfreiheit der Betreuungsform ist Menschenrecht!
Kleine Wohngemeinschaften mit maximal vier (bis fünf) BewohnerInnen sind jedenfalls viel besser als Wohngruppen mit zehn und mehr “Klienten”. Unbestreitbar wäre die Ursprungs- bzw. Wahl-Familie (Adoptiv- oder Pflegefamilie) mit entsprechenden Unterstützungen und finanziellen Ausstattungen das Optimum für alle Menschen mit Unterstützungsbedarf, denen ein selbstbestimmtes Leben in Eigenverantwortung nicht möglich ist. Ich halte das Konzept von “Gastfamilien” auch für betreuungsbedürftige ältere Menschen oder Menschen mit psychosozialem Hilfebedarf als Konzept der Zukunft, in der wir jedenfalls ohne das Auslaufmodell der “Heime” auskommen wollen und müssen, wenn wir das Recht von Menschen mit Hilfe- und Assistenzbedarf auf gesellschaftliche Teilhabe und Inklusion – nicht menschenrechts- und verfassungswidrig, wie bisher – ignorieren möchten.
Sparen um den Preis von Respekt und Menschenwürde Betroffener und Mitbetroffener
Im Artikel [Anm.: unten] heißt es: “Während in Großheimen entsprechendes Pflegefachpersonal rund um die Uhr zur Verfügung stehen kann, ist das bei kleinen Wohngemeinschaften bis zu 8 BewohnerInnen organisatorisch und finanziell nicht möglich”. Warum soll das nicht möglich sein? Es liegt nicht an der “Möglichkeit” sondern am politischen Willen des “Sparens um jeden Preis” auf dem Rücken von Pflegebedürftigen. Gleiche ökonomistische Interessen stehen dahinter, dass gerade Familien mit behinderten Angehörigen, welche mit ausreichenden Unterstützungen die idealen Betreuungsbedingungen realisieren könnten, bis zum Letzten ausgequetscht, diskriminiert und existenziell ruiniert werden, obwohl pflegende Angehörige den größten, qualifiziertesten und immer schon legalen Pflegedienst in Österreich stellen. Diese Menschenverachtung scheint mir im Bundesland Niederösterreich, dem selbsterklärten “Familienland” auf dem angeblichen Weg zur “sozialen Modellregion Europas” am krassesten gegeben zu sein.
Personalnotstand ist nicht nur “Grauzone” sondern ein politisch motiviertes Verbrechen!
Obwohl seit der Vereinbarung zwischen dem Bund und den Ländern gemäß Art. 15a B-VG über Sozialbetreuungsberufe (Inkrafttreten vor vier Jahren, unterschiedlich nach Ländern) eine vierjährige Übergangsfrist eingeräumt war, wurde eine Lösung des Personal- und Kompetenznotstandes verschleppt und vermutlich auch nicht einmal das Ausbildungsmodul “Unterstützung bei der Basisversorgung” im gesetzten Rahmen erfüllt. Jetzt, da diese Frist abläuft, ist Feuer am Dach!
Ein Problem mit “illegalem Pflegeheimbetrieb” haben die “hoch anerkannten” Träger der Behindertenhilfe mit ihren “multiprofessionellen” Betreuungsteams in so genannten “integrativen Wohngemeinschaften” jetzt tatsächlich, wenn dort Menschen mit intensivem Pflegebedarf betreut wurden und werden. Fraglich ist, wie lange dieser gesetzwidrige Zustand von den zuständigen Landes-Aufsichtsbehörden noch (amtsmissbräuchlich!) gedeckt werden kann und ob dies durch weitere Pflichtverletzungen wie akkordierte Heim-Rauswürfe und aufsichtsbehördliche Scheinprüfungen vertuscht werden kann. Die Staatsanwaltschaft St. Pölten ermittelt bereits seit 16 Monaten und ist sich vermutlich noch immer nicht sicher, ob sie dieses heiße Eisen wirklich anfassen soll (oder darf?).
Gibt es einen Ausstieg aus der Interessensgemeinschaft des “Ökonomisten-Syndikats”?
Bis jetzt besteht noch die gegenseitige Verstrickung der “Sozial”-Behörden (meist Kostenträger) mit den Leistungsträgern. Ich bezeichne es als “Ökonomisten-Syndikat”, denn einige Träger der Behindertenhilfe haben sich den ökonomistischen Vorgaben der landesfürstlichen “Obrigkeit” unterworfen. Bei den Tarifverhandlungen hat man sich Jahr für Jahr immer mehr in die gegenseitige Abhängigkeit hineinmanövriert. Die Einrichtungen haben sich dem Diktat der Länder unterworfen, anstatt in ihrer Organisationsverantwortung klare Grenzen zu ziehen, die von den bundesgesetzlichen Rahmenbedingungen her geboten wären. Meines Erachtens bleiben den Betreibern von “illegalen Pflegeheimen” nur noch die Selbstanzeige bei den augenzudrückenden Landes-Pflegeaufsichtsbehörden oder besser dem Gesundheitsministerium und die Ankündigung des Ausstiegs aus diesem “Syndikat”. Vielleicht gibt es auch so etwas wie eine Kronzeugenregelung, wenn alle Fakten auf den Tisch gelegt werden?
Schluss mit der föderalistischen Inkompetenz!
Lieber Herr Huainigg, ich finde diesen Artikel (Anm.: unten) viel zu vereinfachend. Die Sicherstellung “qualitativer Pflege bei gleichzeitiger Weiterentwicklung des ganzheitlichen Betreuungsansatzes” muss natürlich das Ziel sein. Statt aber prekäre Pflegeverhältnisse, die für Pflegebedürftige UND unterqualifizierte Betreuer ein enormes Risiko darstellen, bagatellisieren und scheinlegalisieren zu wollen, sollten wir uns auf das Kernproblem konzentrieren und es in aller Klarheit ansprechen: Die eugenisch-ökonomistische Grundausrichtung und die grund-recht-lose Verfassung unseres unsolidarischen Gemeinwesens! Hier müssen wir ansetzen, da ist der Verfassungsgesetz- und Bundesgesetzgeber gefordert. Den Ländern muss die “Sozial-Kompetenz” – zumindest seit In Krafttretens der UN-Behindertenrechtskonvention, im Bereich der Behindertenhilfe – im Zuge der dringenden Verfassungsreform entzogen werden! Wie groß muss der Leidensdruck der föderalistischen Inkompetenz denn noch werden?
Posting im Forum von BIZEPS-INFO:
http://www.bizeps.or.at/news.php?nr=9801#fid10395 18. Juli 2009 00:01 Uhr
Nachtrag (20.07.2009):
@anonym und anonym: Die genannten Parteien stehen einander bzgl. “Hauptschuld” in nichts nach. In Wien ist es die eine, in Niederösterreich die andere absolutistische Landesregierung. Im Bund und bis zu den Höchstgerichten sind eine eugenisch-ökonomistische Grundausrichtung und das unverantwortliche Fortführen des 90-jährigen Provisoriums einer grund-recht-losen Bundesverfassung die Ursachen für das Pflege-Debakel und die ausufernde “Staatsverschuldung” an Menschenwürde.
Alle Beschäftigten der Pflegeberufe und der Sozialbetreuungsberufe sind ebenfalls betrogene Opfer des “Ökonomisten-Syndikats”. Am Meisten ausgebeutet und verhöhnt werden in diesem politisch motivierten Unrechtssystem aber pflegende Angehörige. Völlig ignoriert werden die Bedürfnisse und Rechte, sowie die Würde der pflegebedürftigen Menschen.
Posting im Forum von BIZEPS-INFO:
http://www.bizeps.or.at/news.php?nr=9801#fid10406 20. Juli 2009 13:03 Uhr
Gerhard Lichtenauer, Österreichische Bürgerinitiative “Daheim statt Heim” [URL entfernt, Anm.]
DiePresse Gastkommentar von Franz-Joseph Huainigg (7.7.2009)
Im Parlament wird über den Bericht zur „Lage behinderter Menschen“ diskutiert. Die Lebenssituation in kleinen Wohngemeinschaften ist absurd. …
Quelle: BIZEPS-INFO Vom Leben in der sterilen Latex-WG (17. Juli 2009)Seit Oktober 2008 bin ich nicht mehr Abgeordneter im Parlament, aber als ÖVP- Behindertensprecher weiterhin tätig. Die Presse veröffentlicht am 7. Juli 2009 eine Rede, die ich im Parlament gehalten hätte:
Sehr geehrter Herr Sozialminister! Sehr geehrter Herr Gesundheitsminister!
Darf ich Sie fragen, ohne indiskret zu sein, wie es bei Ihnen zu Hause aussieht? Haben Sie im Bad Seifenspender und Hände-Desinfektionsspender montiert? Oder gibt es statt Handtücher Papiertücher? Essen Sie womöglich auf einem nicht keimfreien Holztisch?Diese Fragen mögen auf den ersten Blick absurd klingen, aber die staatlichen Auflagen für Wohngemeinschaften mit behinderten Menschen verwandeln die wohnliche Atmosphäre zunehmend in sterile Kleinkliniken. Unter dem Deckmantel “Qualitätssicherung” schrumpft die reale Lebensqualität von behinderten Menschen zunehmend. Holz weicht dem Plastik, alles muss abwischbar sein, Latex-Handschuhe für jeden Handgriff, es riecht nach Desinfektionsmittel.
Vor allem aber vereiteln berufständische Interessen das Konzept “kleine familienähnliche Strukturen statt Großheime”. Während in Großheimen entsprechendes Pflegefachpersonal rund um die Uhr zur Verfügung stehen kann, ist das bei kleinen Wohngemeinschaften bis zu 8 BewohnerInnen organisatorisch und finanziell nicht möglich.
In Wien haben BehindertenfachbetreuerInnen eine sozialpädagogische, behindertenpädagogische, oder eine psychosoziale Ausbildung von mindestens 630 Stunden. Zurecht steht derzeit die ganzheitliche Betreuung von behinderten Menschen im Vordergrund.
Die BetreuerInnen, die täglich mit den gleichen behinderten Menschen zu tun haben, dürfen rein rechtlich trotz der hohen Qualifikation nahezu keine Pflegetätigkeiten durchführen, auch nicht für sich regelmäßig wiederholende Tätigkeiten, für die sie durch eine diplomierte Krankenschwester oder eine Ärztin gut eingeschult werden könnten. Dies führt in betreuten Wohngemeinschaften zu absurden Situationen und stellt letztendlich das Konzept vom Leben behinderter Menschen in familienähnlichen Wohnstrukturen völlig in Frage.
Hier drei abwegige Beispiele aus der Praxis:
Ein Älterer Mann lebt seit über 20 Jahren in einer betreuten Wohngemeinschaft. Er erkrankt an Diabetes, der Blutzucker muss regelmäßig kontrolliert und Insulin gespritzt werden. Im Team der Wohngemeinschaft arbeiten ausgebildete PädagogInnen, die, auch wenn sie entsprechende Diabetikerschulung machen würden, im Zuge ihrer Berufstätigkeit nicht befugt sind den Blutzucker zu messen und Insulin zu verabreichen.
Bei Anzeichen einer Über – oder Unterzuckerung kann das Warten auf das Eintreffen einer Pflegefachkraft ein rechtzeitiges Setzen von Maßnahmen verzögern, was zu
einer Verschlechterung des Gesamtzustandes oder einem diabetischen Koma führen kann.
Eine WG-Bewohnerin wurde am Wochenende mangels Erreichbarkeit von Arzt und DGKS mit Verstopfung in das Krankenhaus gebracht. Nach einigen Stunden erfolgt die Entlassung mit der Anordnung einen Einlauf zu geben. Da BetreuerInnen dazu nicht befugt sind, musste unter Aufwand (Wochenende!) ein mobiler Dienst organisiert werden. Neben der schmerzhaften Verzögerung erfolgte der intime Eingriff durch eine für den behinderten Menschen völlig fremde Person.
Nach Aussage von Pflegefachkräften und auch nach eigenen Erfahrungen sind Ernährung über eine Magensonde viel sicherer für Betroffene als Essen und Trinken über den Mund – Risiko des lebensgefährlichen Verschluckens! Die Unterstützung bei der (gefährlicheren) oralen Nahrungsaufnahme – ist für BetreuerInnen erlaubt, über die Sonde jedoch nur Pflegefachkräften vorbehalten.
Auch behinderte Menschen wie ich, deren Blase katheterisiert oder deren Atemkanüle wegen Verschleimung in unregelmäßigen Abständen abgesaugt werden muss, können nicht in einer kleinen Wohngemeinschaft leben. Nicht, weil diese pflegerischen Maßnahmen von BetreuerInnen nach einer Einschulung durch Ärzte durchführbar wäre, sondern weil dies standesbedingt untersagt ist.
Pflegende Angehörige hingegen dürfen all diese Tätigkeiten verrichten, in der ambulanten 24-Stunden-Betreuung zu Hause oder bei der Unterstützung von persönlicher Assistenz konnte dies 2008 im GuKG für Betroffene bedarfsgerecht geregelt werden. Nicht so bei oft notwendigen betreuten familienähnlichen Wohnstrukturen: Das im GuKG geregelte Modul der Basisversorgung sollte als integrativer Bestandteil aller Ausbildungen zu den verschiedenen Sozialberufen unterrichtet werden.
Wer über dieses Basiswissen verfügt, sollte von Pflegefachkräften oder von Ärzten pflegerische Tätigkeiten für eine bestimmte Person, zeitlich limitiert und kontrolliert nach einer Einschulung delegiert bekommen können.
Sehr geehrte Minister, es geht um eine Sicherstellung einer qualitativen Pflege bei gleichzeitiger Weiterentwicklung des ganzheitlichen Betreuungsansatzes. Das Leben von behinderten Menschen in noch kleineren Wohngemeinschaften mit maximal vier BewohnerInnen muss das Ziel sein.
Das kann aber nur gelingen, wenn nicht die berufsständischen Interessen sondern die Bedürfnisse behinderter Menschen in den Vordergrund gestellt werden.
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