Der “legistische Pflegenotstand“: Föderalismus- Krise und Herausforderung der Rechtsstaatlichkeit.
Im Rechtsstaat Österreich (?) müssten für die “Öffentliche Hand” längst die “Handschellen” klicken!
Leserreaktionen zum BIZEPS-Artikel “Volle Blase? Bitte warten!” (Text siehe ganz unten):
Systemabsturz als tiefenwirksame Schocktherapie
Liebe/r “fraza”, es sollte tatsächlich einen ordentlichen Knall machen, mit der Weiterwurschtlerei von “Faserschmeichlern” kommen wir auch in vielen Jahren noch nicht weiter. Es bräuchte eine “Tiefenreinigung” nach dem Waschmittel-Slogan “zwingt Grau raus und Weiß rein”. Völlig richtig, “ein ganzes System würde zusammenbrechen”, wenn in sogenannten “Heimen” und “Wohngemeinschaften” von heute auf morgen alle Gesetze eingehalten würden.
“Dienst nach Vorschrift” gegen den herrschenden “Eugenik-Ökonomismus”
Wenn also “Dienst nach Vorschrift” gemacht würde, träte der “worst case” ein, vor dem sich die dem “eugenischen Grundkonsens” frönenden Ökonomisten in politischer (noch) Verantwortung tatsächlich zu fürchten haben. Zu sehr ist bei Hilfe- und Pflegebedürftigkeit die traditionelle Missachtung von Menschenrechten, Patientenrechten und Selbstbestimmungsrechten mit der etablierten Befürsorgungs- und Verwahrungspraxis verwoben, als dass hier eine rasche und einfache Lösung möglich wäre.
Parallelen zur “24 Stunden Pflege” zu Hause durch Ost-Pflegekräfte
Es besteht zwar eine ähnliche Konstellation wie die “Grauzone” der “südböhmischen” Betreuungslösung im Privatbereich. Als Ausweg aus der politisch motivierten Verantwortungslosigkeit der letzten Jahrzehnte musste sich in diesem Bereich bürgerschaftliche Selbsthilfe der “Notwehr” (mehrfachen Gesetzesbruchs) bedienen um sprichwörtlich zu überleben. Diese “Grauzone” war seitens der in ihrer Existenz Bedrohten ethisch vollkommen gerechtfertigt (und ist es auch heute noch für Jene, die sich dem Druck der verordneten Scheinlegalisierung noch nicht beugten).
Aber auch hoheitliche Problem-Leugnungen haben kurze Beine
Moralisch aber keinesfalls nachvollziehbar wäre es, wenn (angenommen) ein gut situierter Schwiegersohn, der zu einer lupenrein gesetzestreuen Betreuung einer pflegebedürftigen Schwiegermutter (für die relativ kurze Zeit bis zu ihrem Lebensende) locker seinen angemessenen Beitrag leisten könnte, … öffentlich aber behaupten würde, “es gibt keinen Pflegenotstand” … wir erinnern uns noch.
Manche Lügen haben etwas längere Beine (und Arme)
Genau so wenig ist es (drei Jahre danach) akzeptabel, wenn die zuständigen NÖ Aufsichtsbehörden nun seit vier Jahren und vier Monaten (sogar auch noch nach einer entsprechenden Strafanzeige vor einem Jahr und vier Monaten) beharrlich – aber nicht belegbar – behaupten, dass rechtlich immer alles vollkommen in Ordnung gewesen wäre und schriftlich dazu ausführen: “Wenn Leitung und Personal der Einrichtung der Meinung sind, dass die Betreuung und Pflege eines Menschen unter gegebenen Bedingungen möglich ist … so ist das als fachlich fundierte Meinung zu verstehen.”
Unangenehme Folgen von hochkommenden Verdrängungen
Die zuvor schon über viele Jahre bekannte, vor drei Jahren gezielt veröffentlichte “Grauzone” im privaten Pflegebereich bewirkte unerwartet die Umkehr eines allgemein erwarteten Wahlergebnisses. Ein 18-monatiger Koalitionskrampf mit Verrenkungen und Purzelbäumen bis hin zur “Schwamm drüber”- Verfassungsänderungsänderung und dem “es reicht”- Absturz waren die Folge.
Worin besteht der eigentliche Skandal?
Der eigentliche politische Skandal liegt aber in der Tatsache, dass es im institutionellen stationären Pflegebereich ähnliche “Grauzonen” gibt und schon immer gab. Hier lasse ich aber das Argument einer entschuldbaren “Notwehr” seitens der Landesbehörden nicht gelten, denn das bewusste ökonomistische Missachten von Rechten und Gesetzen geschah nur aus fiskalen Gründen, obwohl es nur eine Frage des politischen Willens und der Prioritäten war.
Gilt das rechtsstaatliche Prinzip nicht auch für die Länder?
In einem Rechtsstaat (so Österreich einer wäre) müssten Vertreter von Landes-Aufsichtsbehörden des Verbrechens des Amtsmissbrauchs zur Verantwortung gezogen werden, wenn sie bestehenden Gesetzen zuwider handelten. Vertreter des Dienstgebers dieser Vollzugsbeamten (bis hinauf zum Landeshauptmann) würden im Falle von tolerierten oder sogar angeordneten Amtspflichtverletzungen ebenfalls strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen sein, wenn sie sich bewusst mit Schönfärbern und Blendern umgaben.1
Länder dürfen Bundesgesetz nicht aushebeln, schon gar nicht aus “niederen Motiven”
Das Gesundheits- und Krankenpflegegesetz besteht in dieser Form seit zwölf Jahren, ob und wie es praktikabler und klüger zu novellieren wäre, ohne Menschen zu gefährden, ist eine andere Sache. Als Bundesgesetz kann und darf das GuKG nicht auf Landesebene – nur um Kosten zu sparen – ignoriert werden. Dazu können zwar Landesverordnungen und Richtlinien über Mindeststandards und ökonomistische Betreuungsschlüssel einiges zu verschleiern versuchen.
Im Ergebnis bedeutet das aber nur, dass
- nicht nur der erwähnte “Sozialarbeiter”, der (tatsächlich auch “notgedrungen” bzw. genötigt) pflegerechtliche Kompetenzen überschreitet, für etwaige Gesundheitsgefährdungen und Pflegeschäden verantwortlich ist
- und auch nicht nur die Organisationshaftung des (weniger “wehrhaften” oder auch opportunistischen) Einrichtungsbetreibers greift,
- sondern vor allem für die “Öffentliche Hand” bald die “Handschellen” klicken müssten!
Postings im Forum von BIZEPS-INFO: nr=9918#fid10470 & #fid10471 & #fid10472 5. August 2009 13:43-13:44 Uhr
BIZEPS-Posting von “fraza“ (4. August 2009 23:08 Uhr)
Sehr geehrte Fr. Lichtenauer!
Ihr Aufzeigen von Mißständen ist richtig, nur vergessen sie die Menschen die jede Minute auf Betreuung und Pflege angewiesen sind, heute, jetzt. Sollen wir auf eine Gesetzesänderung warten und zusehen wie unsere Behinderten (Entschuldigung) verrecken. Dann werden wir uns auch in Zukunft in Grauzonen bewegen.
Vom Land NÖ wird verlangt dass in Einrichtungen das Personal eine umfassende Ausbildung hat, nur zeigen sie mir eine dipl. Pflegerin die für einen immer noch niedrigen Lohn diese Arbeit verrichten möchte.
Wir haben ja noch immer die Situation dass pflegende Angehörige zu Hause ALLES machen dürfen und der Betreuer in den Behin.Einrichtung nicht einmal das Essen geben dürfte. Würde man aufstehen und sagen, das darf ich nicht und das auch nicht und jenes sowieso nicht, ein ganzes System würde zusammenbrechen.
So wird auf dieser Schiene wahrscheinlich die nächsten Jahre weitergewurschtelt. Kommt es zu Mißständen wird ab und zu ein Sozialarbeiter verurteilt, weil ganz wegschauen dürfen die Politiker natürlich nicht, sonst verlieren sie noch den letzten Rest an Verantwortung, schließlich haben sie ja ein ? Gesetz gemacht.
.
Artikel bei BIZEPS-INFO – Text: Dr. Franz-Joseph Huainigg (29. Juli 2009)
Volle Blase? Bitte warten!
Wenn berufsständische Interessen vor die Bedürfnisse behinderter Menschen gestellt werden, bleibt die Blase voll, der Darm unentleert und die Atemkanüle lebensbedrohlich verstopft.Luise F. lebt in einer oberösterreichischen Wohngruppe für behinderte Menschen. Wenn sie durch die Hitze etwas zu viel Wasser getrunken oder zu viel wasserhältiges Obst gegessen hat, kann es sein, dass plötzlich schon um 15:00 Uhr ihre Blase voll ist. Obwohl sie es könnten, darf keiner der BehindertenbetreuerInnen sie katheterisieren.
Luise muss bis 18:00 warten, dann kommt die mobile Krankenschwester und mit ihr die Erleichterung. Bis dahin heißt es Schmerzen aushalten, spastische Krämpfe ertragen und eventuell sogar Gesundheitsschäden durch den Urinrückstau in die Nieren riskieren.
Man muss der Tatsache ins Auge sehen, dass nicht alle behinderten Menschen zu Hause leben können. Wenn man große Pflegeheime durch kleine Wohngemeinschaften und kleine Wohngruppen (bis zu 8 Personen) ersetzen möchte, muss man auch die Rahmenbedingungen für die Pflege behinderter Menschen entsprechend ihren Bedürfnissen adaptieren.
In familienähnlichen Wohnstrukturen kann nicht rund um die Uhr eine Pflegefachkraft auf Abruf bereit gestellt werden. Daher ist es notwendig, dass pflegerische Tätigkeiten für eine bestimmte behinderte Person in der WG von einer Pflegefachkraft an eine/n BetreuerIn delegiert werden können.
In der Novelle 2008 zum Gesundheits- und Krankenpflegegesetz (GuKG) konnte das wichtige Delegationsprinzip geschaffen werden. Dadurch können pflegerische Tätigkeiten von Pflegefachkräften an PersonenbetreuerInnen im Rahmen der 24-Stunden-Betreuung und an persönliche AssistentenInnen delegiert werden. Es ist völlig unverständlich, warum man ausgebildete BehindertenbetreuerInnen in Wohngruppen vom Delegationsprinzip noch immer ausschließt. Die derzeitige gesetzliche Regelung im GuKG führt zu teilweise absurden Situationen in Wohngemeinschaften:
Ein Abführzäpfchen darf nur die diplomierte Fachkraft verabreichen, auch einfache Verbände dürfen trotz Infektionsgefahr von BehindertenbetreuerInnen nicht gewechselt und sogar die Atemkanüle darf bei Verschleimung nur von einem diplomierten Krankenpfleger abgesaugt werden. Sogar bei Notfällen ist ein entsprechender mobiler Dienst zu kontaktieren. Wer weiß, dass bereits nach drei Minuten ohne Atmung Gehirnschäden auftreten, sieht die Irrationalität dieser Regelungen.
Betont sei, dass es hier nicht um Qualität geht. Denn eine Beatmungskanüle gut und fachgerecht absaugen, können nach einer Einschulung persönliche AssistentInnen genauso wie pflegende Angehörige. Es liegt an der Pflegegewerkschaft anstatt überholte Berufspfründe abzusichern, ein funktionierendes Case- und Care-Management aufzubauen. Dadurch würden nicht nur behinderte Menschen sondern auch Pflegefachkräfte durch neue Aufgabenbereiche profitieren.
Die Nagelprobe zwischen berufsständischen Interessen und den Grundbedürfnissen behinderter Menschen passierte im Ministerrat, wo die GuKG-Novelle auf der Tagesordnung stand.
Der wichtige Zugang zum Ausbildungsmodul der Basisversorgung wurde für BehindertenbetreuerInnen im letzten Moment vom Gesundheitsministerium aus dem Begutachtungsentwurf gekippt. Ebenso findet sich kein Ansatz eines Delegationsprinzips. Bestehendes wird festbetoniert, Flexibilisierungsansätze fehlen. Es braucht dringend eine GuKG-Reform, aber nicht diese!
- Nachtrag: Etwaige Unsicherheiten, ob Gesetze auch für politische Eliten und Amtsträger gelten, wurden in Folge der Veröffentlichung geheimer Justiz-Akten im Falter “Weisung aus dem Sack” vom 12.8.2009 (also eine Woche nach diesem Posting im BIZEPS-Forum) “eindeutig” ausgeräumt. Staatsanwaltschaften-Sprecher, Justizministerin und Verfassungsexperten sind sich einig: Österreich sei keine “Bananenrepublik”, vor dem Gesetz sind alle gleich und Unwissenheit schützt vor Strafe nicht. Dies gelte im Falle von Amtspflichtverletzungen auch für Landeshauptleute! ↩
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